Georgien im Russischen Reich

Trotz der schweren Verluste war das kulturelle Leben Georgiens außerordentlich reich und lebendig. Als 1825 Vertreter des gescheiterten Dekabristenaufstands, Mitglieder der russischen liberalen Intelligenz aus Sankt Petersburg nach Transkaukasien in die Provinz Tiflis verbannt wurden, trafen sie dort auf eine hoch gebildete georgische Oberschicht.

Der strafversetzte Dekabrist Peter Alexandrowitsch Bestushew schrieb begeistert an seine Mutter:

Was für faszinierende Orte! Es ist kein Wunder, dass die Poeten ob der hiesigen Landschaft voll des Entzückens sind.

Alexandrowitsch Bestushew

Die aufbegehrenden georgischen Intellektuellen hinterließen durch ihren Freiheitswillen einen nachhaltigen Eindruck.

Zwischen Russifizierung & Eigenständigkeit

In den folgenden Jahren wurde Georgien einer intensiven Russifizierung unterworfen, um das soziale und kulturelle System dem Russlands anzupassen. Alle hohen Posten in der Verwaltung wurden mit russischen Beamten besetzt und Georgisch als Verwaltungs- und Kirchensprache abgeschafft.

In den Schulen war die Muttersprache verboten, Geschichtsbücher wurden umgeschrieben, Kunstwerke zerstört und die kulturelle Identität mit allen Mitteln untergraben.

Alexander Gribojedow, russischer Diplomat und Schriftsteller bezeichnete das russische Vorgehen als "unerhörtes Mass an Unterordnung", die den Georgiern abverlangt wurde.

Die gesamte georgische Kultur, Dynastie, Kirche und Sprache wurden nivelliert, wie es das Land unter keiner der vorherigen Fremdherrschaften erfahren hatte.

Philipp Ammon, deutscher Historiker

Einflussnahme auf das religiöse Leben

Eine besonders tief greifende Veränderung war die systematische Entfremdung ihrer Religion: Die eigenständige und sehr viel ältere altgeorgische Liturgie wurde durch den altkirchenslawischen Kultus ersetzt und der georgisch-orthodoxen Kirche die Autokephalie für mehr als hundert Jahre entzogen. Anlässlich eines Besuchs des Zaren Nikolaus I. wurden die Fresken der zu besuchenden Kathedralen weiß übertüncht.

Das Paris des Ostens

Erst mit der Einsetzung des russischen "Vizekönigs" Michail Woronzow, der die georgische Kultur sehr schätzte, verbesserte sich die Situation. Der in England erzogene Fürst öffnete Georgien für Europa und in wenigen Jahren entwickelte sich Tbilissi zum "Paris des Ostens".

Dichter und Reisende wie Alexandre Dumas, Puschkin, Lermontov, Tolstoj, Tschechow und Tschaikowski waren hingerissen von der märchenhaften Atmosphäre der Hauptstadt und der Lebensweise seiner Bewohner: "Ich sah wundervolle Dinge … meine Eindrücke waren so neu, dass es mir vorkam, als ob es ein Traum sei" schrieb Anton Tschechow, anlässlich seiner ersten Georgienreise.

In Georgien blühten Aufklärung und Liberalismus, sämtliche klassischen Werke der europäischen Literatur wurden ins Georgische übersetzt, 1845 entstand das erste Theater und 1846 die erste öffentliche Bibliothek im südlichen Kaukasusgebiet.

 

Georgien als Sehnsuchtsland

Tbilissi und Umgebung, Gemälde von Michail Lermontov
Tbilissi 1837, Gemälde des russischen Dichters Michail Lermontov

Zwischen georgischen und russischen Schriftstellern, Malern und Musikern entwickelte sich inmitten der politischen Differenzen, im Bereich der Kunst und Philosophie eine intensive Verbindung mit reichem kulturellen Austausch. Georgien war durch seine südliche Lage ein beliebtes Ferienparadies, seine Schwarzmeerstrände galten ab dem 19. Jahrhundert als "Russische Riviera" und Erholungssort der Bohème.

Russische Nationalschriftsteller wie Puschkin, Tolstoi, Lermontov und Pasternak prägten die Vorstellung von Georgien als "Land der großen Schicksale" (Tolstoi), der "wilden Freiheit" (Puschkin) und des "seelischen Glanzes" und verklärten Georgien zum Idealland für den Künstler und für seine Phantasie (vgl. Pasternak "Briefe nach Georgien").

Georgische Kulturlandschaft wurde zur russischen "Seelenlandschaft". Der US-amerikanische Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger John Steinbeck schrieb in seinen Reiseaufzeichnungen:

Wo immer wir in Russland waren, in Moskau, in der Ukraine oder in Stalingrad – ständig tauchte der magische Name Georgien auf. Menschen, die dort nie gewesen sind und wahrscheinlich niemals dorthin gehen würden, sprachen über Georgien mit einer Art Sehnsucht und Bewunderung. Sie sprachen von den Georgiern wie von Übermenschen, großartige Trinker, großartige Tänzer, großartige Musiker, großartige Arbeiter und Liebhaber. Und sie sprachen über das Land im Kaukasus und um das schwarze Meer wie von einem zweiten Himmel. Wir fangen wirklich an zu glauben, dass die meisten Russen hoffen, dass sie, wenn sie ein gutes und tugendhaftes Leben führen, nicht in den Himmel kommen, wenn sie sterben, sondern nach Georgien.

John Steinbeck in "A Russian Jounal", 1948

Georgische Schriftsteller wie Giorgi Leonidse, "dieser so ganz und gar unabhängige Dichter" (Boris Pasternak) oder der georgische Philosoph und Erkenntnistheoretiker Merab Mamardaschwili, galten als Symbol intellektueller Unabhängigkeit und bildeten die Gegenwelt zur Dogmatik der herrschenden Regierung.

Für uns junge russische Philosophen war er das Symbol für intellektueller Freiheit; er stand für lebendiges Denken, frei von jeglichen ideologischen Dogmen. Er besaß die seltene Gabe, zum Denken anzustiften, indem er am eigenen Beispiel vorführte, wie der Vorgang des Denkens funktioniert.

Michail Ryklin, Professor für Philosophie, 2008

Philipp Ammon - Die Wurzeln des georgisch-russischen Konflikts (1783-1832)

Michael Ryklin - Bessere Menschen, Die ZEIT, 28.08.2008

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